Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Fanprojekte NRW ist die berufspolitische Interessenvertretung der 16 sozialpädagogischen Fanprojekte im Sportland NRW und wirkt seit Jahren als verbindendes Element zwischen Fanprojekten, Vereinen, Verbänden, kommunalen Trägern, Sicherheitsbehörden und Politik sowie den Bedarfen von Fans. Auf Grundlage eines anerkannten fachlichen Profils (hinterlegt im Nationalen Konzept Sport und Sicherheit) erbringen Fanprojekte Leistungen der Jugendhilfe (SGB VIII): Gewalt- und Extremismus-Prävention sind zwei zentrale Säulen, Bildungsarbeit, Vermittlung bei Konflikten sowie viele weitere methodische Angebote tragen nachhaltig zu einem sicheren Stadionerlebnis für junge Menschen und die gesamte Fußballfamilie bei.
Unrühmlicher Start der Debatte
Besonders irritiert hat die öffentliche Kritik des sächsischen Innenministers Armin Schuster an der Fanprojektarbeit. Dieser formulierte im Rahmen der Innenministerkonferenz im Oktober 2024 öffentlich die Frage, „Sind unsere Fanprojekte … eigentlich zielsicher angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir haben? Da haben wir … gewisse Zweifel, ob die noch à jour sind.“ [1] Gleichzeitig sprach er sich für eine förmliche Wirksamkeitsanalyse aus. [2] Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte (BAG) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Behauptungen ignorieren, dass Fanprojekte seit vielen Jahren regelmäßig evaluiert werden und die Wirksamkeit der sozialpädagogischen Arbeit längst bestätigt ist.[3]
Als LAG haben wir unmittelbar nach diesen Äußerungen das Gespräch mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul gesucht und unsere Verwunderung über die pauschale Infragestellung des gesamten Arbeitsfelds deutlich gemacht. Im persönlichen Gespräch stellten wir fest, dass Herausforderungen im Fußball selbstverständlich existieren, aber dauerhaft ausschließlich über Dialog, Respekt und gemeinsam entwickelte Lösungen bearbeitet werden können. Wir haben daher erneut unsere Vermittlerrolle zwischen Fans und Sicherheitsinstitutionen angeboten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir aus den Fanszenen selbst einen klaren Wunsch nach gesprächsorientierten Lösungswegen vernehmen.
Die Einrichtung der „Bund-Länder offenen Arbeitsgruppen“ (BLoAG) durch die Innenministerkonferenz im Oktober 2024 hat zu vielen Fragen geführt. Aus unserer Sicht ist es dringend notwendig, dass dieser Prozess nicht als reine Sicherheitsdebatte geführt wird, sondern die sozialpädagogische, dialogorientierte und lebensweltbezogene Perspektive der Fanprojekte und Fanszenen aktiv einbezieht. Der öffentliche Diskurs zu Fußball und Sicherheit ist derzeit einseitig von Forderungen nach härteren Maßnahmen geprägt. Er gefährdet aus unserer Sicht das ausgewogene Verhältnis zwischen Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit, das im Fußball über viele Jahre entwickelt worden ist.
Besonders besorgniserregend ist, dass der politische Diskurs oft von stark emotionalen Bildern begleitet wird, beispielsweise von angeblich „unsicheren Stadien“, „gefährdeten Innenstädten“ oder einer ausufernden Gewaltentwicklung. Solche „Nebelkerzen“ prägen zwar die mediale Wahrnehmung, werden jedoch durch belastbare Zahlen nicht gestützt.[4] Der aktuelle ZIS-Jahresbericht 2024/2025 weist bei gleichzeitig steigenden Zuschauerzahlen rückläufige Gewaltkennzahlen aus. [5] Diese Daten zeigen, dass Fußball in Deutschland weiterhin ein sicheres Massenereignis ist. Auch potenziell sicherheitsrelevante Entwicklungen wie z.B. die Verwendung von Pyrotechnik rechtfertigen keine Szenarien, in denen rechtsstaatliche Prinzipien zugunsten pauschaler Straflogiken aufgeweicht werden.
Chronik eines Dialoges, der nie einer war
Als LAG betrachten wir die jüngsten Entwicklungen als Prozess. Ein Blick zurück zeigt, dass die jetzigen Verschärfungstendenzen kein Einzelfall sind. Bereits in den Debatten rund um die Reform des Polizeigesetzes in Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) wurde auf Fußballfans als Begründung hingewiesen, obwohl die Datengrundlage ein solches Bild nicht hergab.[6] Als das neue Versammlungsgesetz NRW am 7. Januar 2022 in Kraft trat, gab es erneut breite gesellschaftliche Kritik, die jedoch keine entscheidende politische Kurskorrektur bewirkte.[7] [8] [9] Viele Fußballfans beteiligten sich, wie kürzlich in Leipzig[10], friedlich an Demonstrationen gegen diese Gesetzesverschärfungen, gehört wurden sie jedoch kaum. Das landesweite Projekt „Stadionallianzen NRW“[11] [12] bestätigte die Tendenz, ein weiteres überwiegend repressiv ausgerichtetes Instrument wurde geschaffen. Die im Projekt angelegte Evaluation liegt bis heute nicht öffentlich vor und obwohl sich die Befürchtungen massiver negativer Entwicklungen nicht bestätigt haben, folgt nun der nächste Schritt: die BLoAG-Diskussion, die zum Teil auf noch weitergehende Eingriffe in Grundrechte abzielt.
Besonders problematisch erscheint die politische Forderung, dass künftig schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens – unabhängig von Schuld oder gerichtlicher Bewertung – automatisch zu einem bundesweiten Stadionverbot führen soll. Damit würde eine faktische „Parallelbestrafung“ entstehen, die die Unschuldsvermutung in Frage stellt. An vielen Spielorten im Bundesgebiet gibt es unter Anleitung der Vereine sogenannte Stadionverbotsgremien, die sich an den Standorten ausdifferenziert und etabliert haben. Diese erfolgreiche Entwicklung würde irreparabel beschädigt, aufgebautes Vertrauen in Strukturen sowie Partizipation zerstört. Bisher ist nicht transparent, wie viele Ermittlungsverfahren vergangener Jahre überhaupt zu einer Verurteilung geführt haben oder nach welchen Kriterien Polizeibehörden in unterschiedlichen Bundesländern solche Verfahren einleiten. Ohne diesen Kenntnisstand entsteht ein offenes Feld für Willkür und Fußballfans werden faktisch zu Bürger*innen zweiter Klasse. Auch Maßnahmen wie die Personalisierung von Tickets und der Einsatz von KI-gestützter Sicherheit (z. B. Gesichtserkennung) stoßen auf breite Ablehnung.[13]
Hinzu kommt, dass der Nationale Ausschuss Sport und Sicherheit (NASS), ein legitimiertes, bewährtes und dialogorientiertes Gremium ist, das zahlreiche Akteur*innen wie Ministerien, Polizeien, Verbände, kommunale Stellen, wissenschaftliche Expertise, Fanprojekte und weitere [14] vereint. Bei den Entwicklungen der Bund-Länder-offenen Arbeitsgruppen wurde der NASS umgangen. Fehlende Transparenz sowie fehlende Partizipation sorgen bei vielen Involvierten, vor allem aber bei den potenziellen Betroffenen für große Irritation. Dass dieser Weg in den aktuellen politisch getriebenen Verschärfungsprozessen verlassen wird, halten wir für einen gravierenden Fehler. Wer Dialog einfordert, muss diesen auch garantieren und zwar nicht selektiv, sondern auf Augenhöhe mit allen Beteiligten.
Dabei existieren zumindest für NRW klare politische Aufträge, die in eine andere Richtung weisen. Im „Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen“ (Koalitionsvertrag CDU/Grüne vom 23.06.2022)[15] wird ausdrücklich die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Polizei und Fans als politisches Ziel benannt.[16] Programme hierfür werden gefordert und befürwortet, umgesetzt wird es in der Sicherheitsdebatte aktuell jedoch nicht. Als Jugendhilfeträger wissen wir aus Erfahrung: Konflikte können nachhaltig nur über Gespräch, Beziehung, Transparenz und Verantwortung bearbeitet werden. Einseitige Verhärtung führt dagegen erfahrungsgemäß zu Polarisierung und erhöhten Spannungen. Wir plädieren für einen ergebnisoffenen und lösungsorientierten Diskurs unter Beteiligung aller Stakeholder und freuen uns, wenn „unser“ Innenminister diesen Ansatz mit in die anstehenden Verhandlungen im Rahmen der Gespräche der Innenministerkonferenz im Dezember nimmt.
Zu guter Letzt ist es uns ein besonderes Anliegen das vielfältige positive Engagement von Fanszenen sichtbar zu machen. Fußballfans sind nicht bloß potenzielle Störer [17] oder gar ein Sicherheitsrisiko, sondern ein starker zivilgesellschaftlicher Faktor. Am Standort der LAG in Bochum rufen gegenwärtig die Ultras [18] des VfL Bochum dazu auf, Weihnachtsgeschenkpakete für sozial benachteiligte Menschen zu packen. Dies Engagement steht hier stellvertretend für viele vergleichbare soziale Aktionen in deutschen Fanszenen.
Diese gelebte Solidarität und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme innerhalb der Fankultur gehört zum Fußball. Die Fankultur verdient politische Anerkennung, sie schützt den Fußball vor weiteren Kommerzialisierungsdynamiken und bewahrt somit ein wichtiges Gemeinwohl, welches der Zuschauersport Fußball zweifelsfrei darstellt. Abschließend sei festgehalten, dass die Feinde einer offenen und demokratischen Gesellschaft nicht in den Fankurven stehen. Im Gegenteil zeigen die Entwicklungen an vielen Standorten, dass aktive Fanszenen den Fußball in großer Mehrheit erfolgreich gegen nationalistische, ausgrenzende und politisch missbräuchliche Vereinnahmung verteidigen.
Aus Sicht der LAG Fanprojekte NRW ergeben sich daraus folgende Kernforderungen:
- Stopp der Einführung pauschaler Stadionverbote bei Einleitung eines Ermittlungsverfahrens
- Verpflichtende und verbindliche Einbeziehung des NASS als fachlich legitimiertes Gremium in alle weiteren Entscheidungsphasen der BLoAG
- Transparenz über Ermittlungszahlen, Verfahren und Verurteilungsquoten, um wissenschaftlich fundierte, evidenzbasierte und sachlich geführte Diskussionen zu ermöglichen
- Die Kompetenz über Hausrecht und Stadionverbot liegt bei den Vereinen, die damit sorgsam gemäß der „Richtlinien zur einheitlichen Behandlung von Stadionverboten“ [19] umgehen
- Weg von Scheindebatten über Stadionsicherheit (und Stadtbild), hin zu Dialog und Lösungsorientierung
- Kein weiteres Zerstören gewachsener und belastbarer Beziehungen, vgl. „Stadionverbotskommissionen“ und den „Fall Karlsruhe“ [20]
Download: Positionen LAG Fanprojekte NRW zu BLoAG Entwicklungen
Quellen:
[1] Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/fanhilfen-fussball-gewalt-projekte-fanarbeit-100.html
[2] Kicker, https://www.kicker.de/schusters-aussagen-zu-den-fanprojekten-sorgen-fuer-verwunderung-1060742/artikel
[3] Outlaw, https://www.outlaw-ggmbh.de/artikel/bag-der-fanprojekte-empoert-ueber-die-forderung-nach-einer-wirksamkeitsanalyse-nach-dem-spitzengespraech-der-innenministerinnen-mit-den-fussballverbaenden
[4] Sportschau, https://www.sportschau.de/fussball/gewalt-im-fussball-polizei-legt-ruecklaeufige-zahlen-vor,zis-zahlen-sporteinsaetze-polizei-100.html
[5] ZIS – Jahresbericht Fußball Saison 2024/2025, https://lzpd.polizei.nrw/sites/default/files/2025-10/251009-1_ZIS-Jahresbericht_2024-2025_2.pdf
[6] Coloniacs, https://www.coloniacs.com/?p=6338
[7] Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Versammlungsgesetz_des_Landes_Nordrhein-Westfalen
[8] Rheinische Post, https://rp-online.de/sport/fussball/fanhilfe-kritik-an-nrw-versammlungsgesetz-entwurf-vor-innenausschuss_aid-57853423
[9] LAG Fanprojekte NRW, Fanhilfe Dortmund, https://www.lag-fanprojekte-nrw.de/wp-content/uploads/2021/05/Stellungnahme-NRW-Fanhilfen-Versammlungsgesetz-NRW.pdf
[10] 11Freunde, https://www.11freunde.de/fussballkultur/fandemo-in-leipzig-hotspot-der-groessten-deutschen-subkultur-a-1eff9980-0267-47f6-9d62-458ca8c23d88
[11] Ministerium des Innern des Landes NRW, https://www.im.nrw/gemeinsam-gegen-gewalt-vereine-und-polizei-vereinbaren-stadionallianzen-0
[12] Nicht zu verwechseln mit den Stadionallianzen der DFL, die durchweg auf Dialog ausgerichtet sind und Fanbetreuungen der Vereine, sozialpädagogische Fanprojekte sowie Fans mitdenken, https://www.dfl.de/de/praevention/fragen-und-antworten-zu-stadionallianzen/
[13] Dachverband der Fanhilfen, https://www.dachverband-fanhilfen.de/pressemitteilungen/mehr-als-20-000-fans-in-leipzig-ausrufezeichen-fuer-lebendige-fankultur-und-gegen-imk-plaene/
[14] Polizei NRW Rhein Sieg Kreis, https://rhein-sieg-kreis.polizei.nrw/uebersicht-nass
[15] Koalitionsvereinbarung CDU / Grüne 2022-2027, https://www.cdu-nrw.de/sites/www.neu.cdu-nrw.de/files/zukunftsvertrag_cdu-grune.pdf
[16] Ebenda, S. 128, 6342 f
[17] Absichtlich nicht gegendert
[18] Ultras Bochum, Weihnachten aus dem Schuhkarton, https://ub99.de/?p=2451
[19] DFB, https://www.dfb.de/fileadmin/_dfbdam/306070-stadionverbote.pdf
[20] Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit, https://www.zeugnis-verweigern.de/2025/10/16/ausgang-im-karlsruher-verfahren-sendet-deutliches-signal-an-bundespolitik/






